Inklusion durch Innovation: Der CYBATHLON als Bühne für bahnbrechende Technologien

11. November 2024

Ob robotergesteuerte Arme, gedankensteuerbare Geräte oder treppensteigende Rollstühle: Beim CYBATHLON treffen Forschung und Zukunftsvisionen aufeinander. Doch hier wird mehr als nur innovative Technik gefeiert – es geht um Barrierefreiheit und Teilhabe für alle.

Das Schweizer Forschungsteam Sight Guide hat eine Seh-Assistenz entwickelt, die Informationen durch eine Kamera vor der Brust des Piloten erfasst.

Lautes Gejubel und motivierender Applaus erfüllen die SWISS Arena in Kloten, sobald sich die Teams auf ihrem Startplatz positionieren. Sie machen sich bereit, um in nur wenigen Minuten ihre technologische Innovation für Menschen mit Behinderungen vorzuführen und in einer der acht Disziplinen gegen andere Entwickler:innen anzutreten. Insgesamt 67 Teams aus 24 Ländern wollen zeigen, woran sie die letzten Jahre gearbeitet haben. Mit den Assistenztechnologien müssen sie alltägliche Aufgaben lösen.

Auch wenn es faktisch ein Wettkampf sei, sollen Innovation und Spass an diesem dreitägigen Event Hand in Hand gehen, erklärt Robert Riener, Initiator des CYBATHLONs und Professor für Sensomotorische Systeme am Departement für Gesundheitswissenschaften und Technologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Es gehe aber auch um die öffentliche Sichtbarkeit: «Mit solchen Veranstaltungen können wir einerseits die Forschung innerhalb der Teams vorantreiben. Andererseits ermöglicht es ihnen, lokale Sponsoren zu gewinnen, um überhaupt weiter forschen zu können.» Dies immer mit dem Ziel, Barrieren abzubauen. Denn alle Innovationen hätten ihren Ursprung in den Bedürfnissen der Menschen mit Behinderungen, die von Beginn an in die Entwicklung der Hilfsmittel einbezogen würden.

Laut und bestärkend: Das Publikum spornt die Pilot:innen und ihre Teams ununterbrochen an.

Innovationen zwischen Alltag und Zukunft

Auf dem Spielfeld, dort wo für gewöhnlich Eishockey-Matche ausgetragen werden, finden die Wettkämpfe statt. Die Innovationen sind breit gefächert: Eine technische Sehassistenz hilft durch die Umwandlung von Bild in Sprache beim Sortieren von farbigen Stoffstücken, ein Roboterarm hebt eine Flasche vom Boden auf und stellt sie der Pilotin mit einer Querschnittlähmung auf den Tisch. Manche Disziplinen erscheinen beinahe in futuristischem Glanz: So können die Pilot:innen mit ihren Gedanken, also spezifischen Aktivierungsmustern des Gehirns, Steuerbefehle für einen computergestützten Prozess auslösen. Ein Team aus den USA hat gar mit einem Piloten teilgenommen, der implantierte Mikroelektroden im Gehirn hat. Was einige befremdet, fasziniert andere.

Die Disziplin «Brain-Computer Interface» basiert auf Gedankensteuerung. Die Pilot:innen agieren in virtuellen Räumen.

Doch längst nicht alle High-Tech-Innovationen sind weit vom alltäglichen Gebrauch entfernt. Um dies zu würdigen, wird am diesjährigen CYBATHLON neu ein Jury-Award verliehen. Dabei werden die Anwendbarkeit, Innovation und Generalisierbarkeit einer vorgeführten Technologie im Alltag bewertet. Einige Prototypen aus vorherigen Jahren haben den Sprung auf den Markt bereits geschafft. So bspw. der treppensteigende Rollstuhl Scewo, mit dem ein Studententeam der ETH 2016 am CYBATHLON teilgenommen hat. In der Expo Hall gleich neben dem Stadion können Wissenshungrige unter anderem dieses technische Hilfsmittel testen und ansatzweise erleben, was Barrieren und deren Abbau für Menschen mit Behinderungen bedeuten.

Für Thomas Mayer, General Manager bei Biogen Switzerland, ein enorm wichtiger Moment: «Nur wenn wir aktiv den Blick für die Barrieren schärfen, können wir anschliessend auch Lösungen finden.» So wünsche er sich eine Art Virtual Reality Brille, die man aufsetzen könnte, um bspw. als Rollstuhlfahrer:in durch ein Gebäude zu gehen, denn: «Wenn wir von vornherein wüssten, welche Barrieren bestehen, würden wir sie nicht bewusst einbauen.» Dieser Abbau von Barrieren ist für die Biotech-Firma, welche als Event Partner am CYBATHLON dabei ist, ein wichtiges Anliegen. Das Unternehmen erforscht Krankheiten, welche nicht oder nur unzureichend behandelbar sind. Viele der Betroffenen leben mit einer Behinderung und sind in ihrem Alltag mit verschiedenen Herauforderungen konfrontiert. Biogen engagiert sich dafür, ihre Lebensqualität zu verbessern und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu fördern.

Gemeinsam am inklusiven Strick ziehen

Insgesamt rund 6’000 Zuschauer:innen sind live vor Ort, über 20’000 Menschen verfolgen das Geschehen von zu Hause aus. In den jeweiligen Wettkämpfen sind die Pilot:innen und ihre Teams höchst konzentriert. Das überträgt sich auch auf das diverse Publikum. Vor Ort sind Menschen mit und ohne Behinderungen, manche von ihnen Wissenschaftler:innen, Gesundheitsfachpersonen oder Politiker:innen, andere wiederum Besucher:innen aus Eigeninteresse. Ihre Anspannung entlädt sich in lautem Applaus, sobald die speziell geschulten Schiedsrichter:innen neben dem Parcours die grüne Fahne erheben und damit einen erfolgreichen Task verkünden.

Maximal vier Teams können ihren Wettkampf zeitgleich absolvieren

Die jeweiligen Aufgaben werden via Livestream übertragen, damit auch Details und Nuancen von der Zuschauertribüne aus erkennbar sind. Mehrsprachigen Moderator:innen und Gebärdensprachdolmetscher:innen kommentieren und übersetzen die Wettkämpfe. Auch wenn es allen Teams ums Gewinnen geht, ist die Stimmung kollegial und der Konkurrenzgedanke kaum spürbar. Vom Publikum angefeuert wird jedes Team und jedes Land, denn alle haben das gleiche Ziel: Mittels technologischer Assistenz die Welt für Menschen mit Behinderungen zugänglicher machen.

«Die Vielfalt an Disziplinen zeigt, dass wir alle im selben Boot sitzen», meint die Präsidentin von SMA Schweiz Nicole Gusset, die sich unter das Publikum gemischt hat. Die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen seien mannigfaltig und auf alle Lebensbereiche bezogen, weshalb Innovationen notwendig und zugleich von grossem Nutzen seien. Bei SMA Schweiz hat Gusset selbst ein Tüftlernetzwerk aufgebaut, das eigenhändig ausgetüftelte Lösungen sammelt. «Mittel- bis langfristig kann die Technologie Lösungen bringen, an die wir selbst noch gar nicht denken. Das erleichtert den Alltag von Menschen mit Behinderungen enorm, denn sie müssen nicht immer selbst kreative Lösungen finden», erklärt sie.

Dass solche Innovationen lebensverändert sein können, macht SP-Nationalrat Islam Alijaj deutlich. «Ohne Rollstuhl wäre ich auf viel mehr Hilfe von Mitmenschen angewiesen», erklärt er als simples, aber anschauliches Beispiel. Als einer von unzähligen selbstbetroffenen Zuschauer:innen will er die Innovationen am CYBATHLON hautnah miterleben. «Eine inklusive Gesellschaft braucht nicht nur Gesetze und Rechte, sondern auch moderne Technologien und Medizin. Gehen diese Hand in Hand, sprechen wir von Inklusion», so Alijaj. Auf die Frage, ob der CYBATHLON demnach auch eine politische Komponente habe, lächelt Alijaj verschmitzt. Nach einer kurzen Pause meint er: «Hier werden Hilfsmittel vorgezeigt. Sie sensibilisieren unsere Politiker:innen, was mit diesen Hilfsmitteln alles möglich wäre, wenn sie finanziert werden würden.»

Die Vision als Ansporn

Kaum ist eine Qualifikationsrunde vorbei, schwärmen mehrere Dutzend Helfer:innen und Zivilschutzarbeitende auf das Feld, um den Parcours für die nächste Disziplin umzubauen. Keine zehn Minuten später gehen die Wettkämpfe weiter. Über die drei Tage hinweg sorgen rund 600 Freiwillige für einen reibungslosen Ablauf der gesamten Veranstaltung. Bis ins Detail sind Hilfeleistungen an Rollstuhlrampen und bei Liften, die einen Schlüssel zur Betätigung benötigen, eingeplant. Das zeigt deutlich: Wo Inklusion gefordert wird, wird sie auch selbst gelebt.

Die Wettkämpfe führen bis in die Finals, wo sich Sieges- und Frustmomente nur um eine Haaresbreite unterscheiden – manchmal scheitert der Mensch, manchmal die Technik. Doch im Grunde genommen haben alle Teams gewonnen, so Anja Raab, die das Projektteam von BFH-FAIR aus der Disziplin des Assistenzroboters leitet. «Wenn ich sehe, wie viel unser Pilot Fritz geleistet hat, ist er für mich auch ein Gewinner.» Und zum Trauern, dass das Team knapp das Podest verpasst hat, bleibt sowieso keine Zeit. «Der CYBATHLON war ein Meilenstein des Projekts. Nun wollen wir aber nicht nur an einem Wettbewerb brillieren, sondern die technische Innovation auch ins häusliche Setting bringen», so Raab. Ihre Vision teilen wohl alle Anwesenden des CYBATHLON.

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